Article n°14- Rilale-Uac/ Volume 1, Issue n°1

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Article n°14- Rilale-Uac/ Volume 1, Issue n°1

janvier 26, 2019 admin

VON DER ARMUTSÖKONOMIE IN DEUTSCHLAND: DAS VERBORGENE GESICHT EINER WELTWEIT BLÜHENDEN WIRTSCHAFT IN SCHAMLAND VON STEFAN SELKE.

 

 

 Kouadio Denis SOUANGA

Université Alassane OUATTARA

 souangadenis@yahoo.fr

 

 

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 Abstract

Despite the undisputed prosperity of its economy, the Federal Republic of Germany still hides many weaknesses. The existence of too many poor people in the middle of their society, who assure their survival only through almsgiving at social institutions, gives rise to many outrages. In his work Schamland, the sociologist Stefan Selke exposes the sad reality of life as experienced by those victims of poverty. Despite its international reputation, Germany appears, according to Selke, as a country of shame in terms of its level of poverty along with its appalling consequences. The withdrawal of the state from its responsibility in favour of social organizations comes to worsen more and more the plight of the poor. Nevertheless, the Federal Republic of Germany is not an economically weak country. A good management of their social policy can sustainably solve the debunked crisis.

Keywords: Germany, poverty, social services, plight,  good leadership

 

Zusammenfassung

Trotz des unbestrittenen Wohlstands ihrer Wirtschaft verbirgt die Bundesrepublik Deutschland immer noch viele Schwächen. Die Existenz von zu vielen Armen in der Mitte ihrer Gesellschaft, die nur durch Almosen bei Sozialeinrichtungen ihr Überleben versichern, erweckt viele Empörungen. In seinem Werk Schamland entlarvt der Soziologe Stefan Selke die traurige Lebensrealität dieser Armutsbetroffenen. Trotz seines internationalen Rufs erscheint Deutschland, so Selke, hinsichtlich der Armut und deren traurigen Konsequenzen in diesem Land als ein Schamland. Der Verzicht des Staates auf seine Verantwortung zugunsten Sozialorganisationen vertieft immer mehr die Notlage der Armen. Trotzdem ist die Bundesrepublik Deutschland kein wirtschaftlich schwaches Land. Eine gute Führung ihrer Sozialpolitik kann nachhaltig die entlarvte Krise lösen.

Stichwörter: Deutschland, Armut,  Sozialeinrichtungen,  Notlage, gute Führung.

 

Résumé

Malgré la prospérité incontestée de son économie, la République Fédérale d’Allemagne cache encore beaucoup de faiblesses. L’existence de trop de pauvres au milieu de sa société, qui n’assurent leur survie que grâce à la charité reçue auprès des services sociaux, éveille beaucoup d’indignations.  Dans son ouvrage Schamland, le sociologue Stefan Selke expose la triste réalité de vie pour ces victimes de la pauvreté. Malgré sa réputation internationale, l’Allemagne apparaît, selon Selke, comme un pays honteux au regard de la pauvreté et de ses conséquences désastreuses dans ce pays. La démission de l’Etat de sa responsabilité au profit des services sociaux aggrave de plus en plus le sort des pauvres. Toutefois, la République fédérale d’Allemagne n’est pas un pays économiquement faible. Une bonne gestion de leur politique sociale peut résoudre durablement la crise décrite chez cet auteur.

Mots-clés: Allemagne, pauvreté,  services sociaux,  sort, bonne gestion.

 

Einführung

Die gute Gesundheit der deutschen Wirtschaft ist heute weltweit unumstritten. Deutschland gilt in international vergleichender Perspektive als Wohlstandsgigant[1]. Trotzdem verbirgt diese blühende Wirtschaft viele Schwächen, deren Entdeckung von manchen Beobachtern unter anderem dem Soziologen Stefan Selke Empörungen erweckt. In seinem Werk Schamland analysiert Selke die Lebensrealität der in Deutschland armutsbetroffenen Menschen im Rahmen der Einführung der Sozialpolitik. Er zeichnet das Leben dieser Menschen, die einst in der Mitte der Gesellschaft lebten und jetzt sich verzweifelt bemühen, ein Stück Normalität zu bewahren. Er schämt sich vor diesen empfindlichen Personen, die seit Jahren Almosen bei manchen Sozialeinrichtungen in Empfang nehmen.

Wie tritt diese Armut im Werk von Stefan Selke in Erscheinung? Wie greifen die Sozialeinrichtungen in die Lösung dieser Notlage ein? Wie reagieren die Bedürftigen auf diese Angebote? Drei Reflexionsrichtungen leiten unseren Lauf: Zuerst der Skandal der Armut in Deutschland, dann die Nützlichkeit der Sozialeinrichtungen in diesem Land und endlich die Reaktion der Bedürftigen auf die angebotenen Almosen der Sozialeinrichtungen. Die verwendete Methodik für die vorliegende Forschungsarbeit ist die Sozialgeschichte der Literatur.

 

  1. Vom Skandal der Armut in der Bundesrepublik Deutschland

„Armut ist Teil von Lebenswelten, zu denen man gerne auf sicherer Distanz bleibt“, schreibt Stefan Selke im Prolog seines vorliegenden Werkes[2]. Im Vergleich mit der Doku-Fiktion Aufstand der Jungen entlarvt er den Mangel an der Solidarität in der deutschen Gesellschaft. Der erwähnte Film porträtiert allerdings eine Gesellschaft, deren Regelsystem brüchig geworden ist und in welcher Menschen für weniger als 2,50 Euro pro Stunde arbeiten. Obwohl immer mehr Bürger unter die Armutsgrenze rutschen und um ihr Überleben kämpfen, bleibt der Staat gleichgültig. Keinesfalls schreitet er ein, die armen Bürger zu schützen. Schon in seinem Werk Die Hebamme (1973) beschreibt Rolf Hochhuth dieselbe Gleichgültigkeit des deutschen Staates zu elenden Bewohnern eines Barackenlagers „Nordchicago“ bei der Stadt Wilhelmstahl. Angesichts der Verachtung der Herrscher, die die Existenz dieser untätigen Bevölkerungen zu ignorieren scheinen, können die letzten sich nur auf ihr Schicksal einstellen. Sie nehmen ihr Schicksal nichts anderes als etwas Unvermeidliches an[3]. In der Doku-Fiktion gelten die ersten Stadtteile der Gesellschaft als rechtsfreie Zonen, in denen diejenigen abtauchen, die sich „dem Würgegriff der Behörden und Gläubiger“ entziehen müssen[4].

Am Beispiel von dieser dargestellten Einbildungsrealität beschreibt Selke die Armut in Deutschland, einem reichen Land, und deren traurigen Konsequenzen auf die gefährdeten Bevölkerungsgruppen. In der Mitte der Stadt Berlin existiert, so der Autor, ein derartiger Stadtteil, den sogenannten „Höllenberg“[5]. Dort zahlt niemand Steuern. Die Polizei unternimmt nichts gegen Verbrechen. Wenn in dieser armseligen Behausung Krawalle losbrechen, spricht man von den schwersten sozialen Unruhen seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland, macht Selke bekannt[6]. In der deutschen Gesellschaft scheinen die meisten Bürger, denen es noch besser geht, die durch die Armut und Ausgrenzung gekennzeichnete Parallelwelt zu akzeptieren.

Diese Teilung der deutschen Gesellschaft in ein Oben und ein Unten ist in manchen Sozialschichten spürbar, wie eine I-Euro-Jobberin es erwähnt: „Das ist inzwischen eine Parallelwelt. Wir sind schon zwei Gesellschaften. Der Unterschied zwischen arm und reich wird immer größer. Irgendwann gibt es dann nur noch die ganz Reichen und die ganz Armen[7].“ Immer mehr grenzen sich die Reichen von den Armen ab, welche kaum von Interessengruppen vertreten sind. Keine Kirche oder keine Gewerkschaft verteidigt ihre Interessen, so der Autor[8].Diese neue Form der Armut bedroht gänzlich neue Personenkreise, seien sie Arbeitslose, Alleinerziehende, Menschen mit Migrationshintergrund oder Kinder. Eine solche Armut inmitten vom Reichtum ist  ein Skandal, wie Selke es unterstreicht[9]. Sie untergräbt die Würde des deutschen Bürgers und widerspricht dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. In seinem Werk Spinnennetz der Macht erinnert Jürgen Roth an dieses Grundrecht, wie es im Artikel 1 des Grundgesetz vorgeschrieben ist: „ „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.[10]“ „ Für Roth allerdings sollte das deutsche Grundgesetz ein Wertesystem bilden, das als verfassungsrechtliche Wertentscheidung für alle Bereiche im Verhältnis zwischen Staat und Bürger gilt. Die entlarvte Notlage bei Stefan Selke ist aber das Gegenteil der Fall. Die deutsche staatliche Macht gibt den nervigen Eindruck, ihre Bürger abzugeben. „Ohne soziale Gerechtigkeit wird es jedoch, das ist eigentlich eine Binsenweisheit, keine Legitimation des Staates geben“[11], unterstreicht auch Roth.

Deutschland geht es gut, aber vielen Deutschen geht es schlecht, behauptet auch Selke. Das klassische Bruttoinlandsprodukt eignet sich hervorragend dazu, Ranglisten zu erstellen. Gemäß des Internationalen Währungsfonds listet Deutschland unter rund 180 Ländern auf Platz 20, gleich nach Japan und Frankreich[12]. Trotzdem sind viele Menschen arm. Diese Notlage führt zu negativen Gefühlen, wie zum Beispiel zum Sozialneid, zur Steigerung der allgegenwärtigen Beschämung und zur Verachtung, aber auch zu subjektiven Gefühlen wie Vertrauensverlust, Verlassens ängste und Selbstabwertung. Die Diagnose eines der Gesprächspartner des Autors, der er nicht zitiert, verkündet ausdrücklich die vorliegenden Gefühle:

„Ich befinde mich am untersten Zipfel der gesamten Gesellschaft. Ich habe gearbeitet, habe Steuern bezahlt und bin auch in der Kirche geblieben, als ich arbeitslos wurde und weniger Geld hatte. Aber der Staat hat mich verlassen. Ich bin ein Ausgestoßener! Und es geht immer weiter. Ich sinke immer tiefer.“[13]

Diese subjektiven Armutslebenslagen versuchen manche Arbeitslosen zu überwinden. Die Ausdrücke eines anderen Gesprächspartners des Autors, arbeitslos und Familienvaters, der versucht, gegen den sozialen Abstieg und die Resignation anzukämpfen, ist ausdrucksvoll:

„Ich muss ständig an meinen Empfindungen arbeiten. Wie kann ich vernünftig haushalten? Wie kann ich einen vernünftigen Eindruck machen? Das Problem ist auch im Kopf, nicht nur im Portemonnaie. Das ist auch eine Einstellungssache, eine innere Sache. Die Frage, wie schlecht es einem geht.“[14]

Die Armut bringt allerdings mit sich die Einschränkungen der Freiheit. Die Lebensqualität ist zu einem guten Teil davon abhängig. In diesem Sinne behauptet Uerlings Hebert, was folgt: „Je niedriger das verfügbare Haushaltseinkommen ist, umso stärker ist der Verbrauch auf die Befriedigung des Grundbedarfs wie Wohnen, Essen, Kleidung konzentriert.“[15] Die Armut macht es auch verletzlich. Es reduziert die Lebensqualität. „Wer arm ist“, so der Autor, „ kauft bei Kik, einem Discounter oder einem Vortagsladen ein, der Brötchen von gestern zum halben Preis anbietet, oder geht zur Tafel und ähnlichen Einrichtungen, um sich kompensatorisch Spielräume zu verschaffen“[16]. Der Arme unterscheidet sich in Deutschland, dadurch dass er keine wertigen und langlebigen Dinge einkaufen kann. Er kann keinen eigenen Geschmack und Lebensstil entwickeln und seinen demonstrativen Konsum dazu nicht einsetzen, das soziale Prestige zu steigern. Laut der Bertels-Stiftung ist die relative Armut in Deutschland weit verbreitet. Im Jahre 2013 beträgt die Quote im Durchschnitt rund 15 Prozent der Bevölkerung. Viele Deutsche sind arm, obwohl sie arbeiten, so der Autor[17]. Diese Armut ist aber ungleich zwischen Ost und West.

Nach der Pressemitteilung des statistischen Bundesamts sind im Westen Deutschlands mehr Menschen bedroht als vor zehn Jahren. Im Osten ist die sogenannte Armutsgefährdungsquote dagegen gesunken – allerdings auf höherem Niveau und mit Ausnahme von Berlin. In den alten Bundesländern waren insgesamt 14,7 Prozent der Menschen von Armut und Ausgrenzung betroffen – das waren 1,5 Punkte mehr als 2005. In den neuen Bundesländern – mit Berlin – sank die Quote im gleichen Zeitraum um 0,7 Prozentpunkte auf 19,7 Prozent, traf also noch immer fast jeden Fünften. Von Armut bedroht gilt nach dieser Statistik, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens im Bundesdurchschnitt zur Verfügung hat[18]. Deshalb zog am 9. Februar 2010 das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums inklusive gesellschaftlicher, kultureller und politischer Teilhabe“ als zivilisatorisches Minimum fest[19].

Armut in einer reichen Gesellschaft am Beispiel von der Bundesrepublik Deutschland ist aber kein Naturereignis. Sie ist politisch erzeugt. Ökonomisch ist sie nützlich. Sie ist ein gesellschaftliches Produkt. Die Einsetzung der Sozialeinrichtungen in der Bekämpfung dieser Plage beschreibt sich in diesem Sinne. Was motiviert konkret die Schaffung dieser Einrichtungen? Wozu sind sie nützlich in der Bekämpfung der Armut in Deutschland?

 

  1. Von der Nützlichkeit der Sozialeinrichtungen in Deutschland

Selkes Interesse für die Sozialeinrichtungen kommt von einer beispiellosen Erfahrung, die er mit seiner Freundin in Deutschland machte. Auf dem Weg durch die Stadt, die er nicht nennt, sah er zum ersten Mal einen Mann, der in einer Mülltonne nach Essbaren suchte[20]. Er wurde von diesem undenkbaren Geschehnis überrascht, aber auch empört, dass diese Realität der Dritten Welt unter seinen Augen in Deutschland stattfindet.

Von diesem Stand der Dinge schockiert,  beschloss er  ein Jahr später, eine dieser boomenden Hilfsorganisationen aus der Innenperspektive zu erkunden. Von seinen Beobachtungen aus entdeckt er, dass diese Institutionen, die auf den ersten Blick als Hilfsstrukturen zugunsten ökonomisch schwacher Menschen erscheinen, in Wirklichkeit nichts anderes als politische Strukturen im Lohn der Staatsmachthaber sind. Sie bieten Lebensmitteltafeln, Suppenküchen und andere ähnliche Dienste an. Mehr als eine bloße soziale Struktur sind sie ein politisches System, das die Armuts-, Almosen- oder Hartz-IV-Ökonomie fördert[21]. Dieses System erscheint als der weltliche Arm des Reformprogramms des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhardt Schröder. Allerdings, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft wiederherzustellen, entscheidet sich Schröder für die Liberalisierung des Arbeitsmarkts, für niedrige Sozialleistungen und für die Rentenreform. Dieser Reform, bekannt als „Agenda 2010“, schreiben manche Wirtschaftler zum Teil die Erneuerung der deutschen Industrie und deren Exporterfolge zu.[22] Die gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Reform sind in den zehn letzten Jahren beunruhigend, wie Stefan Selke im vorliegenden Werk beschreibt.Für Selke allerdings ist die neue Armut in der Bundesrepublik Deutschland politisch. Trotz der Regelung der Leistungsansprüche im Sozialgesetzbuch II, die die Würde des Arbeitsuchenden fördert und fordert, wollte man ihn durch den längeren Aufenthalt in Arbeitslosigkeit zwingen, schlechte Arbeit anzunehmen[23]. Die Sozialpolitik „Fördern und Fordern“ infolge der Agenda 2010 führt im Gegensatz zur Scham und zur Beschämung. Sie erleichtert systematische Beschämungsverhältnisse aus Arbeitsreformen, nämlich aus der Zunahme der Leiharbeit, der atypischen und befristeten Beschäftigungsverhältnisse. Hinzu kommen die Vergrößerung des Niedriglohnsektors sowie die Hartz-IV-Gesetze im Namen des ehemaligen Direktors der sozialen Beziehungen bei Volkwagen und Vorsitzender der Kommission verantwortlich für die Vorbereitung der Modernisierung der deutschen Industrie Peter Hartz. Das Elend der Arbeitslosen wurde durch die Einführung des Arbeitslosengelds II verschärft. Diese Maßnahme, das dritte Gesetz der Hartz-Reform nach den zwei ersten, nämlich dem, das die Arbeitslosen dazu zwingt, unabhängig vom Gehaltsniveau eine Arbeit anzunehmenund dem, das die « Mini-Jobs » zu weniger als 400 € monatlich schafft, grenzt für ein Jahr die Zahlung von Arbeitslosengeld für ältere Arbeitnehmer und härtet die Bedingungen der Zuschreibung – eine Stelle von einem Jahr in den letzten zwei Jahren.[24]Dadurch wurden Arbeitslose schneller unter der Armutswelle gedrückt.

Das Engagement der Hilfsorganisationen in die Freiwilligengesellschaft beschreibt sich in dieser Perspektive. Dieses Engagement zu Lasten von diesen Organisationen entlässt den Staat, Urheber der oben erwähnten Maßnahmen,  aus seiner Verantwortung. In diesem Sinne enthüllen sich diese neuen Organisationen als Lückenbüßer eines Systems, das sich von seinen zivilisatorischen Grundprinzipien, nämlich der Unparteilichkeit und der Neutralität verabschiedet[25]. Die meisten humanitären Hilfsorganisationen handeln allerdings auf diesen Grundregeln.

Bei Selke tauchen die Freiwilligen in vielen Varianten auf. Sie sind entweder Ehrenamtliche, bürgerschaftlich Engagierte, Bürgerarbeiter in Selbsthilfe oder Freiwilligendienste. Durch die Ausdehnung ihrer Handlungen in manchen Sozialsektoren geben diese Organisationen den Eindruck, den Staat in seiner Grundsicherung zu ersetzen. Ihr Ruf nach zivilgesellschaftlichem Engagement ist eine typische Gegenreaktion auf ökonomische, soziale und politische Krisen. In diesem Sinne schreibt Gisela Notz, was folgt:

„Soziale Versorgung wird großflächig reprivatisiert, staatlichen Kürzungen zum Opfer fallende soziale Einrichtungen werden der Wohlfahrt überantwortet bzw. der ehrenamtlichen Arbeit und Selbsthilfe übergeben – und all dies wird mit dem ideologischen Mäntelchen des Vorteils menschlicher Wärme … gnädig zugedeckt.“[26]

Allerdings, anstatt die Armut nachhaltig durch politisches Handeln zu bekämpfen, wird private Wohltätigkeit als kostengünstiger Ersatz instrumentalisiert und inszeniert. Diese Helfer handeln als Pannendienst innerhalb einer Armutsökonomie. Sie entlassen den Staat, wobei sie durch Almosen die Bürgerrechte beschädigen. Die Verantwortung für soziale Sicherung wurde von der Politik allmählich auf Freiwillige verlagert, ohne dass diese auf Dauer eine befriedigende Bewältigung dieser Aufgabe garantieren könnten.

Unter derartigen Umständen ist es schwer, diesen Helfern die Schuld im Falle einer Fehlleistung in ihrer Handlung zu geben, denn die Grundsicherung der Bevölkerung liegt den Leitbildern des Staates zugrunde. Der Staat ist im Rahmen seiner königlichen Macht verpflichtet, eine nachhaltige Entwicklung des Landes zu gewähren. „Ein „guter Staat“ ist“, so Selke, “ nach diesem Prinzip einer, der es schafft, Armut so weit wie möglich zu verhindern und damit die Menschenrechte zu achten[27].“ Sich von seiner Pflicht zugunsten der Hilfsorganisationen zu verabschieden, ist für den Bundesstaat ein Sprung nach vorne.

Allerdings wollen die meisten Nutznießer arbeiten. Sie sind fleißig und ehrgeizig. Sie sind dessen bewusst, dass, wer nicht arbeitet, auch nicht essen soll und wer isst, ohne gearbeitet zu haben, ein Dieb ist. Sie erwarten die Schaffung der Arbeitsbedingungen seitens der politischen Macht. Diese Erwartung dreht immer wieder um die Illusion, denn der Staat laut der vorliegenden Aussagen gibt den merkwürdigenden Eindruck, vor seiner Verantwortung zu fliehen. Selbst die Parteien packen dieses Thema nicht an, denn mit diesen unangenehm beschriebenen Dingen bei Selke will sich niemand abgeben. Dementsprechend scheint die Politik sehr ferne von der Realität der Armen zu stehen. Die Politiker geben den falschen Eindruck, keine Ahnung davon zu haben, wie ihr wahres Leben eigentlich vonstattengeht.

Der Staat zieht sich aus seiner Verantwortung. Für die Politiker sind Tafeln eine Entlassung. Mit Armenspeisungen verhindert man, dass soziale Unzufriedenheit überschwappt. Sie beruhigen viele Unzufriedene. Durch derartige Handlung begeht der Staat aber einen Irrtum. Er entzieht sich seiner Verantwortung. Ebenfalls münden die Angebote der Armutsökonomie in eine Parallelwirtschaft, einerseits die der Reichen und andererseits die der Armen.

Diese Ökonomie lindert aber die Armut, anstatt ihre Ursachen zu bekämpfen. Die Menschen spielen höchstens die Rolle von Konsumenten zweiter oder dritter Klasse. Sie nehmen nicht an der Erzeugung von Gütern und Diensten teil, welche zum Wachstum der Wirtschaft beitragen. Die öffentliche Hilfe zu ihnen, wie der Autor im vorliegenden Werk schildert, lindert ihre Armutslage. Sie verschärft aber langfristig das Ausgangsproblem. Die Nutznießer aber, die wegen ihrer Notlage auf die angebotenen Dienste nicht verzichten können, sind auf die Qualität dieser Dienste aufgeteilt.

 

  1. Von der Reaktion der Bedürftigen auf die angebotenen Almosen

Die in Schamland beschriebene Armut ist von den Opfern dieser Notlage schwer anzunehmen. Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Entwicklungsland. Eine gute Führung ihrer Sozialpolitik kann nachhaltig die entlarvte Krise Lösen. Sie hat viele Zuständigkeiten dafür. Deshalb führt diese unannehmbare Notlage zu zahlreichen Anklagen und Verwahrungen. Seien sie Ausbildende, Handwerker, Unternehmer oder Beamte, sind sie viel die Opfer dieser Notlage. Die Aussagen einiger von ihnen sind sehr empfindsam. Nennenswert sind die Erfahrung eines studierenden Ehepaars und die eines kranken Handwerkers mit seiner Frau, die an Herzfehler leidet.

Nach dem Verlust ihres BAföGs, der gesetzlichen Regelung allerdings muss das studierende Ehepaar mit ihrem Kind, verbittert, verletzt und zornig zur Tafel gehen, um seine Familie zu ernähren. Außer dem ersten Kind ist die Frau noch Schwanger. Die Familienlage dieser Studierenden erschwert zweifellos ihre finanzielle Lage und stellt sie am Rand ihrer Gesellschaft.

Allerdings, anstatt die von den meisten Ehepaaren die vorliegende Reihenfolge – Studium, Heirat, Kinder – zu machen, entscheidet dieses Ehepaar sich für das Gegenteil der Fall, das heißt zuerst ihre Kinder zur Welt bringen, dann sich heiraten, bevor sie ihr Studium. Obwohl es sich nicht für arm erklären wollte, zwingt seine schwierige finanzielle Lage, es zur Tafel zu gehen. Sehr verlegen, von sich selbst zu sprechen, berichtet der Ehemann über ihre Lage mit einem unbestimmten Pronomen, wie folgt: „Und versteckt sich dabei hinter dem „man“, so als spräche er [der Ehemann] über andere und nicht über sich und seiner Frau“[28].

Ebenfalls äußern der kranke Handwerker, der auf einer Baustelle stürzte, und seine Frau, die an Herzfehler leidet, ihren Zorn ihrem neuen Leben gegenüber: „Wir waren ein Teil der Gesellschaft, aber Vater Staat hat uns dermaßen verlassen, er hat uns richtiggehend nach unten gearbeitet. Wir sind regelrecht ausgestoßen. Wenn das so weitergeht, sinken wir noch tiefer.“ [29] Über den Bundesstaat sehr empört, wünscht der Ehmann den Rückkehr Adolf Hitlers, um die Bevölkerung von dieser Krise zu retten. In diesem Sinne macht der Autor seine Stimme, wie folgt, bekannt: „Es musste noch mal einen kleinen Hitler geben. Ja, so ein kleiner Adolf. Dann gäbe es heute nicht so viele Arbeitslose, dann würde wieder was getan. Dann würden sich viele nicht mehr so überflüssig vorkommen“[30].

Die Armut hat in der Bundesrepublik Deutschland Folgen, die weit über das bloß Materielle hinausgeht. Resignation und Hoffnungslosigkeit, Selbstaufgabe und Selbstanklage sind, unter anderem, Reaktionen, die sich in den Gesprächen des Autors mit Tafelnutzern in allen Schattierungen und Tonlagen wiederfinden. All das macht krank und kann zum frühen Tod führen. “Rund 30 Prozent der von Armut betroffenen Männer werden nicht mehr älter 65 Jahre[31]“, behauptet der Autor.

Die Arbeitslosen, die dazu entschließen, zur Tafeln zu gehen, verlieren den letzten Rest ihrer Selbstbestimmung. Sie fühlen sich doppelt entmündigt. Erst beim Amt, dann bei der Tafel. Plötzlich sind sie abhängig. Ihre Selbstachtung gewinnen sie nicht durch das Lächeln der Tafelhelfer zurück, sondern nur dann, wenn sie sich wieder selbst etwas kaufen können, wenn sie aufs Neue finanziell unabhängig werden.

Eigentlich muss der Staat mehr Verantwortung übernehmen, damit Tafeln nicht mehr so attraktiv wären. Aber je besser die Tafeln arbeiten, desto eher können sich Politiker zurückkehren. Am Ende verlassen sich Politiker und Bedürftige auf die Tafeln, den liebesgewonnenen Pannendienst der Gesellschaft. Aber, wenn diese Hilfeeinrichtungen wirtschaftliche und politische Rollen spielen, sind sie nicht die soziale Lösung.

Durch die Tafeln bekommt die Politik ein Alibi und kann behaupten, sie versorgt den Bürgern. Die Wahrheit aber ist anders. Die Tafeln sorgen um sich selbst. Die Bürger fühlen sich währenddessen im Stich gelassen, denn das Signal ist: „Ihr sollt uns so wenig wie möglich kosten. Die wirtschaftlich noch verwertbaren Individuen ziehen wir raus. Die anderen speisen wir ab[32].“

Die Tafeln haben nicht damit gerechnet, dass so viele Menschen kommen. Mit dem Zufall sind sie teilweise überfordert, sodass sie die Bürgerrechte wegnehmen. Trotzdem sind die Tafeln kein Schicksal, das von oben auf die Armen niederkommt. Es gibt Alternativen, daraus zu ziehen. Nichts ist in Stein gemeißelt. Durch die Tafeln fühlen die Armen sich ausrangiert und deplatziert. Noch wird der schöne Schein aufrechterhalten. Aber hinter den Kulissen brodelt es. Nur auf den ersten Eindruck hin ist das alles gut und schön. Bei näherem Hinsehen bricht alles auseinander.

Die Armen wünschen sich mehr soziale Gerechtigkeit. Sie haben nichts gegen Belastungen. Nur die ungerechte Verteilung der Belastungen kritisieren sie, denn die Entwicklung ihres Landes in vielen Bereichen unsozial. Deshalb wäre es besser, die deutschen Sozialsysteme zu verstärken, anstatt die Tafeln immer weiter auszubauen, Arbeitsplätze regelmäßig zu schaffen, anständige Löhne zu bezahlen, damit die deutsche Bevölkerung würdig leben könnte. Sozial wäre es, so der Autor, wenn die Tafeln sich selbst überflüssig machen würden, anstatt nur davon zu reden[33], denn sie  machen den Armen keinen Spaß. Das erklärt die Notwendigkeit, aus der Mühle zu ziehen, die dreiste Erniedrigung wegfallen zu lassen.

Schlussfolgerung

Die Thematisierung der Armut in manchen Sozialschichten der Bundesrepublik Deutschland erweist sich als eine Scham angesichts des großen wirtschaftlichen Potenzials dieses Landes und des internationalen Prestiges, mit dem es sich anschließt. Deutschland braucht nicht die Lösung seiner Probleme mit privaten Unternehmen abzuziehen. Es muss seine Verantwortung übernehmen, um die Grundsicherung seiner Bevölkerung zu versichern.

Dem Autor des vorliegenden Skandals erscheint ein Perspektivwechsel dringend notwendig. Für ihn ist es Zeit, dass über den weniger bekannten Teil der Gesellschaft gesprochen wird. Es geht um die Gedankenwelt und Lebenswirklichkeit derjenigen Menschen, die inmitten des gemeinsamen Wohlstands arm sind. Deshalb, anstatt in depressiver Empörung zu verfallen, wäre es besser, den Aufbruch in eine bessere Zukunft  diesen Schwächsten vorzubereiten.

 

Bibliographie

HOCHHUTH Rolf, 1973, Die Hebamme, Komödie, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag GmbH.

ROTH Jürgen, 2013, Spinnennetz der Macht, Wie die politische und wirtschaftliche Elite unser Land zerstört, Berlin, Econ.

SELKE Stefan, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Berlin, Econ.

URL:https://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article158311803/Armut-trifft-in-Westdeutschland-immer-mehr-Menschen.htmln, (21/04/2018).

URL: http://www.slate.fr/story/49535/Allemagne-comment-gerhard-schroeder-redressement (21/04/2018).

[1]Vgl. Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Berlin, Econ., S. 21.

[2] Vgl. Idem, S. 12.

[3] Vgl. Rolf Hochhuth : Die Hebamme, Komödie, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag GmbH, 1973, P.12.

[4] Vgl. Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Berlin, Econ.,Op. Cit., S. 19.

[5] Idem.

[6] Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Berlin, Econ.,Op. Cit., S. 19-20.

[7] Zitiert nach Stefan Selke, in, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op., Cit., 27.

[8] Vgl. Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit, S. 29.

[9] Vgl. Idem, S. 20.

[10] Zitiert nach Jürgen Roth, 2013, Spinnennetz der Macht, Wie die politische und wirtschaftliche Elite unser Land zerstört, Berlin, Econ, S. 10.

[11] Jürgen Roth, 2013, Spinnennetz der Macht, Wie die politische und wirtschaftliche Elite unser Land zerstört, Op. Cit., S. 9.

[12] Vgl. Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit, S. 21.

[13] Zitiert nach Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit, S. 22.

[14] Zitiert nach Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit, S. 22.

[15] Zitiert nach Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 24-25.

[16] Zitiert nach Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 25.

[17] Vgl. Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 25.

[18] Pressemitteilung Statistisches Bundesamt, in, Welt, „Armut trifft in Westdeutschland immer mehr Menschen“, in,https://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/ article158311803/Armut-trifft-in-Westdeutschland-immer-mehr-Menschen.htmln, (21/04/2018).

[19] Vgl. Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 25.

[20] Vgl. Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 9.

[21] Vgl. Idem.

[22] Daniel Vernet: « Comment Gerhardt Schröder a rassuré la compétitivité allemande », in : slate, in : http://www.slate.fr/story/49535/Allemagne-comment-gerhard-schroeder-redressement (21/04/2018).

[23] Vgl. Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 31.

[24] Daniel Vernet: « Comment Gerhardt Schröder a rassuré la compétitivité allemande », in : slate, in : http://www.slate.fr/story/49535/Allemagne-comment-gerhard-schroeder-redressement (21/04/2018).

[25] Vgl. Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 215.

[26] Zitiert nach  Vgl. Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 215.

[27] Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 197.

[28] Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 55.

[29] Zitiert nach Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 61-62.

[30] Zitiert nach Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 62.

[31] Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 172.

[32]Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 164-165.

[33]Vgl. Stefan Selke, 2013, Schamland, die Armut mitten unter uns, Op. Cit., S. 166.

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